Schon als kleiner Junge wollte er nichts lieber als Türme bauen. Türme für die Ewigkeit. Tatsächlich sollte der erwachsene Jan van den Doem den Auftrag erhalten, den mächtigen Domturm von Utrecht zu realisieren. Doch als dieser halb fertig war, ist Jans geliebte Frau gestorben. Der Dombaumeister hat sich aus Trauer ins Kloster zurückgezogen. Erst als alter Mann hat er noch einmal den Weg zurück in die Stadt gefunden. Schon aus der Ferne konnte er das 112 Meter hohe Bauwerk sehen. Der Architekt war ergriffen. Und er war zufrieden.
In einem Gewölbe tief unter der Erde werden wir mit dieser Geschichte auf die kommenden Stunden eingestimmt. Sie ist Bestandteil eines Animationsfilms, der die lange und anekdotenreiche Historie des höchsten Sakralbauwerks der Niederlande zum Thema hat. Und trotz einer leicht vagen Quellenlage beschließe ich in diesem frühen Stadium, die ebenso romantische wie melodramatische Episode zu mögen.
Bald ändert der Film seinen Tonfall. Wir schreiben das Jahr 1674, als ein Tornado über Utrecht hinwegzieht, der den mittleren Trakt des Kirchenschiffs zum Einsturz bringt. Nur der Ostflügel des Sakralbauwerks und der Domturm halten der Windhose stand. Die Trümmer des gotischen Doms erinnern in den kommenden anderthalb Jahrhunderte an das Naturereignis und die Anfälligkeit menschlichen Schaffens. Erst im 19. Jahrhundert werden sie entsorgt. Seitdem besitzt Utrecht einen Domplatz. Dieser ist erst auf den zweiten Blick merkwürdig. Er befindet sich zwischen dem Turm und dem an der Westseite zugemauerten Kirchenschiff.
Auch Jitte Roosendaal erzählt diese Geschichten Tag für Tag, meist während er die Besucher die 465 Treppenstufen hinauf zur obersten Plattform begleitet. Und der drahtige Mann weiß, dass die Utrechter noch immer mit diesem dunklen Fleck auf ihrer Vergangenheit hadern – obwohl der Domplatz zu einer Art Mittelpunkt des städtischen Lebens geworden ist, mit Demos und Konzerten.
„Es gibt auch heute noch Pläne, den Dom von Utrecht wiederaufzubauen“, sagt Roosendaal. Als späte Korrekturmaßnahme gegen den Willen der Geschichte, aber mit gebührendem Respekt vor der Langsamkeit mittelalterlicher Architektur: „Wenn wir bald anfangen, könnte der Dom 2074 wieder so wie einst aussehen.“ 400 Jahre nach seiner Zerstörung.
Der Kollaps des Kirchenschiffes, dessen Querverstrebungen unzulänglich befestigt waren, bietet indes auch Möglichkeiten. So konnte sich vor rund sechs Jahren ein Team von Archäologen unter dem Domplein auf die Suche nach Relikten aus vergangenen Epochen machen. Angetrieben von dem Wissen, dass der heutige Stadtmittelpunkt seit Römerzeiten besiedelt war, hofften sie dort eine Fülle von Ausgrabungen machen zu können, wie es sie in dieser Breite in den Niederlanden nicht gegeben hatte.
Herre Wynia hat die Ausgrabungen begleitet und anschließend zu einer unterirdischen Inszenierung aufbereitet. Mit fast kindlicher Begeisterung geleitet uns der Stadtarchäologe zu einer Treppe, die vom Domplein hinunter ins Erdreich führt. „Dom Under“ nennt sich der Raum, in dem die Fundstücke seit einigen Tagen als Dauerausstellung zu sehen sind.
In dem fast vollständig abgedunkelten Raum sind Überbleibsel jener Gemäuer zu sehen, die den Römern ab 48 n. Chr. als „Trajectum“ gedient haben, also als eine Art Fort. Zu den Funden gehören auch die Trümmer einer romanischen Kirche, die vor dem Dom an Ort und Stelle gestanden hat. Dazu Grabsteine und Skelette aus dem Mittelalter, aber auch eine Wasserleitung aus dem 19. Jahrhundert, mit deren Hilfe die Stadt nach einer Cholera-Epidemie endlich mit sauberem Trinkwasser versorgt werden konnte.
Kernbestandteil aber ist eine Sammlung von 44 Münzen aus dem 7. Jahrhundert, die Wynia und sein Team sichergestellt haben. Der Fund gilt als so bedeutend, dass er in den Abendnachrichten vermeldet wurde. Zudem hat er Wynia einen Auftritt bei „De Wereld draait door“ beschert, der populärsten Talkshow im holländischen Fernsehen. Mir erzählt er, dass die Ausgrabungsstätte Zeugnisse von fast 2000 Jahren Geschichte birgt – sowohl bezüglich der Konzentration als auch der Zeitspanne einzigartig in den Niederlanden.
Besucher können nur in kleinen Gruppen durch den dunklen Raum geschleust werden. Informiert werden sie von einem kuriosen Medium: Sprechenden Taschenlampen, die auf Knopfdruck Texteinspielungen von sich geben.
Zurück ans Tageslicht. Nun erklimme ich gemeinsam mit Jitte über steile Stufen den Turm. Unterwegs erreichen wir einige Plateaus. Wir sehen die 14 Glocken. Die älteste stammt aus dem Jahr 1405, die schwerste wiegt 6000 Kilo. Um alle für ein feierliches Konzert in Bewegung zu setzen, bedarf es 20 Glöcknern.
Weiter oben steht eine überdimensionale Musiktruhe, die der Stadt Tag für Tag den Sound des „alten Holland“ beschert. Es ist ein komplexes Gerät von enormen Ausmaßen. Zur Programmierung von vier kurzen Melodien müssen 800 Pins gesetzt werden – in zweitätiger Arbeit. Am 25. August wird die altertümliche Jukebox so getuned, dass sie Melodien von ABBA von sich geben wird.
Die Kammer in der Spitze des Turms ist normalerweise nicht zugänglich. Darin verbirgt sich neben dem tragenden Gebälk auch Streusalz für die Aussichtsplattformen – und ein Satz rotweißblauer Flaggen für besondere Festtage.
Der Blick reicht an diesem trüben Tag nur bis zum Stadtrand. Wenn es klar wäre, sagt Jitte, könnten wir am Horizont die Skyline von Amsterdam und manchmal auch von Rotterdam sehen.
Am Abend dann entfaltet der Dom von Utrecht eine bezaubernde Wirkung: Er ist gelblich illuminiert und von fast jedem Ort zu sehen. Mal versteckt er sich düsteren in Nebelschwaden, dann wieder scheint er kokett mit dem Mond zu flirten. Und der Dom von Utrecht kann tatsächlich kommunizieren: Über einen Sensor hat er Kontakt mit einer Bodenstation.
Wer auf der Stadthuisbrug einen ins Straßenpflaster eingelassenen Kompass betritt, kann dadurch ein Signal auslösen. Dann ist es fast so, als würde die Domspitze in Form eines Blinklichtes ein Augenzwinkern von sich geben.
Die Spielerei gehört zum Trajectum Lumen, ein Parcours, der die nächtliche Schönheiten der Stadt zaghaft zu betonen versucht. Das kleine Schauspiel kulminiert um Mitternacht, wenn eine Tirade von Lichtblitzen durch den Innenraum der Domspitze zuckt.
Die Inszenierung weckt bei mir Assoziationen an Sturm und Gewitter. Und ich verstehe, warum sich kein Utrechter dem Impuls entziehen kann, diesen Turm zu lieben und sich um sein Wohl zu sorgen.
Informationen:
Führungen durch die den unterirdischen Teil („Dom Under“) werden Di-So von 11 bis 16 Uhr jeweils zur vollen Stunde, mittwochs um 14 Uhr und samstags (11 Uhr) ist ein Archäologe dabei. Tickets kosten 10 Euro, in Kombination mit dem Domturm 15 Euro. Auch der Turm kann nur in Begleitung eines Führers bestiegen werden, Di-Sa von 11 bis 16 Uhr zur vollen Stunde, sonntags um 12, 14, 15 und 16 Uhr, montags von 12 bis 16 Uhr. Die Dombesteigung kostet 9 Euro.
Ralf Johnen, Juni 2014. Bilder: Ralf Johnen, Anna van Kooij (Dom Under, 1). Die Reise wurde von Visit Utrecht und dem Niederländischen Büro für Tourismus & Convention unterstützt.