Kanäle, Brücken, eine weit zurückreichende Geschichte und gondelähnliche Wasserfahrzeuge? Vieles schreit in Giethoorn nach dem Vergleich mit der norditalienischen Prachtstadt, die auch „La Serenissima“ genannt wird. Abgesehen davon natürlich, dass man nach laut vor sich hinknatternden Vaporetti hier vergeblich Ausschau hält. Im äußersten Norden der Provinz Overijssel nämlich flüstern die Boote. Das hat die Gemeindeverwaltung in den 80er Jahren forciert, nachdem der Fahrbetrieb auf der Hauptverkehrsader allzu hektisch und geräuschintensiv geworden war. Seitdem dürfen die rund 650 Leihboote auf der Dorpsgracht (Dorfgracht) nur noch von einem Elektromotor angetrieben werden – mit einer Höchstgeschwindigkeit von sechs Stundenkilometern.
Es ist diese Betulichkeit, die Klaas van der Veen an seinem Wohnort schätzt. Um 9 Uhr morgens, lange bevor die Tagesausflügler in das 2600-Seelen-Dorf einfallen, sitzt der 71-Jährige am Ruder eines dieser „Fluisterbootjes“, die stundenweise oder auch für ganze Tage vermietet werden. Die Sonne wärmt bereits beträchtlich, es scheint ein guter Frühlingstag zu werden. Unter zahllosen Brücken hindurch und vorbei an reetgedeckten Häusern, in deren Gärten Rhododendron-Büsche blühen, bahnt sich das Boot langsam seinen Weg.
Van der Veen bewegt kaum merklich das Ruder, um eine Linkskurve zu machen. Nun nähert sich das Boot der Bovenwijde, einem See von beträchtlichen Ausmaßen. Früher, erklärt der pensionierte Militärbedienstete, war das hier alles eine Moorlandschaft. Durch den Torfabbau, von dem die Bewohner Giethoorns lange ihren Lebensunterhalt bestritten, sind über die Jahrhunderte weitflächige Wasserlandschaften entstanden, die heute zur Freizeitgestaltung genutzt werden.
Den Lebensraum auf dem See teilen sich die Flüsterboote mit Artverwandten, die gänzlich schweigen. „Punters“ werden diese Fortbewegungsmittel in der lokalen Umgangssprache genannt, wobei das „u“ wie ein „ü“ ausgesprochen wird. Charakteristische Boote, die mit einem einzigen primitiven Leinensegel ausgestattet sind. Vor der Verbreitung maschinellen Antriebs waren sie das einzige Fortbewegungs- und Transportmittel in dem 1234 erstmals erwähntem Dorf, das sich vom einen Ende bis zum anderen über gut neun Kilometer ausdehnt.
Heute werden die Punters meist zur nostalgischen Leibesertüchtigung genutzt. Und die kann es in sich haben: Wenn ein strammer Westwind weht, wird es zuweilen fast unmöglich, vom offenen Wasser ins Dorf zurückzukehren. „Dann“, sagt Van der Veen lachend, „müssen die Leute zu dem Hilfsmittel ihrer Vorväter greifen. Einem simplen Ruder.“
Noch immer existieren in Giethoorn zwei kleine Werften, in denen Punters hergestellt werden. Dazu wird französische Eiche verwendet, aus deren Stämmen die wenigsten Zweige herauswachsen, weshalb die Qualität des Holzes unerreicht ist. Zwei Männer arbeiten gut drei Wochen lang an einem Boot, das anschließend für rund 15.000 Euro gehandelt wird. Ein stolzer Preis, der das Produkt rund um Giethoorn zum modernen Statussymbol macht.
Wenn auf der nahen Dorpsgracht das tägliche Schaufahren begonnen hat, ist der örtliche See ein Garant für Ruhe und Erholsamkeit. Selbst Nichtschwimmern droht hier keine Gefahr, denn das künstliche Gewässer ist nur etwa einen Meter tief. „Im Sommer ein herrliches Revier zum Baden“, meint Klaas Van der Veen. Doch nicht nur das – aus dem See ragt ein Flecken Land empor, der den Traum vom Leben auf einer einsamen Insel wahr werden lässt: Auf dem Eiland erhebt sich das Kraggehuis, das größere Gruppen tageweise oder fürs Wochenende mieten können.
Nach ausgiebiger Kontemplation ertönt nun wieder das leise Schnurren des Motors. In wenigen Minuten ist das südliche Ende der Dorpsgracht erreicht. Diese Route ist die einzige Möglichkeit, Giethoorn in seiner ganzen Pracht zu entdecken, denn die Gracht ist eine Einbahnwasserstraße. Zur Linken und zur Rechten reihen sich in meist großzügigen Abständen die Häuser aneinander. Viele sind ehemalige Bauernhöfe, von denen manche einen Heuschober mit steil abfallendem Dach besitzen. In einem Dorf, das lange Zeit aus nur einer langen Reihe von Behausungen bestand, kam den Scheunen eine wichtige Funktion als sozialer Treffpunkt zu: Sie waren die einzig zugänglichen Bauten, die nicht öffentlich einsehbar waren. Nur hier waren junge Liebespaare unbeobachtet.
Auch wenn es die heutige Noblesse nicht vermuten lässt, war Giethoorn ein armes Dorf: Das meiste Geld aus dem Torfabbau ist an Kaufleute aus dem Nachbarstädtchen Blokzijl gegangen. Damals florierte der Handel in dem Hafenort an der Zuiderzee, einige Patrizierhäuser im Amsterdamer Stil zeugen bis in die Gegenwart vom Reichtum. 1932 dann wurde erst der Abschlussdeich gebaut und später das Polder trockengelegt, wodurch sich Blokzijl seiner angestammten Funktion beraubt sah – und in Vergessenheit geriet.
Giethoorn hingegen hat sich zu einem der schönsten Orte in den Niederlanden gemausert. Die gemütlichen Häuser sind allesamt fein herausgeputzt. Dabei liegen die Besitztümer am Ostufer der Dorfgracht technisch gesehen auf kleinen Inseln, die nur über die charakteristischen Holzbrücken erreicht werden können. Das ermöglicht ein friedliches, fast schon archaisches aber nicht ganz unkompliziertes Leben, denn Autos können nur bis zum Dorfrand vordringen. Wer also nach Giethoorn ziehen willen, muss nicht nur Geduld haben, bis eines der begehrten Häuser zum Verkauf angeboten wird – und rund eine halbe Million Euro berappen können –, sondern auch gewisse Beschwerlichkeiten in Kauf nehmen: Möbel können nur im Punter oder im Flüsterboot transportiert werden.
Es sei denn, die Gracht ist zugefroren, so wie es in diesem Winter wieder der Fall war. Dann aber müssen die Giethoorner ihre Besorgungen zwischen Schlittschuhläufern hindurch schleppen, die in solchen Fällen aus dem ganzen Land in das Dorf strömen. Auf der Bovenwijde werden Buden aufgebaut, in denen Kakao und Würstchen verkauft werden. Ein Fest nationaler Rangordnung.
Erhaben aber ist das Dorf auch an normalen Tagen: In der Dämmerung, wenn die beleuchteten Brücken sich im Wasser spiegeln, und vereinzelte Fledermäuse ausgelassen umherflattern. Unwillkürlich fahndet man nun nach der niederländischen Übersetzung für „La Serenissima“. Dies ist auch die richtige Zeit zur Einkehr ins „Grand Café Fanfare“, einer landestypischen Kneipe, die hier „bruin café“ genannt werden. Das Café zählt zu den Schauplätzen, in denen 1958 der Spielfilm „Fanfare“ gedreht wurde. Diesen Meilenstein der niederländischen Filmgeschichte haben seinerzeit zwei Millionen Menschen im Kino gesehen. Erst dadurch, erzählt Klaas Van der Veen, wollten viele Niederländer wissen, ob das Leben in Giethoorn wirklich so besonders war. Eine Touristendestination war geboren.
Wer kann, sollte über Nacht hier bleiben. Wegen der Stunden, in denen hier – sowie in den Kreuzfahrerdestinationen dieser Welt – keine Tagestouristen den Weg versperren. Aber auch wegen der näheren Umgebung: Per Flüsterboot ist der Weg in den noch viel kleineren Nachbarort Dwarsgracht nicht weit. Hier, verrät Van der Veen, ist das Leben noch einfach und unprätentiös. So, wie es in Giethoorn war, bis es seinen Siegeszug angetreten hat. An Land drängt sich unterdessen ein Rundkurs mit dem Fahrrad auf: Auf 40 Kilometern geht es durch Weerribben-Wieden. So heißt der Landstrich im Norden von Overrijssel, der vor wenigen Monaten zum 21. Nationalpark der Niederlande gekürt wurde. Ein Detail übrigens, das Giethoorn seiner italienischen Konkurrenz voraushat.