
Die “Mona Lisa des Nordens”: Vermeers “Mädchen mit dem Perlenohrring” ist der Popstar des Mauritshuis
Der erste Roman war kostspielig für das Mauritshuis in Den Haag: Nachdem „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ von Tracy Chevalier zum Bestseller-Roman und die anschließende Verfilmung mit Scarlett Johannsen zum Blockbuster geworden sind, wurde das Museum geradezu belagert. Für Johannes Vermeers Gemälde war in der Folge schnell das unbeholfene Attribut „Mona Lisa des Nordens“ geboren. Und die beschauliche Gemäldegalerie war dem Andrang nicht mehr gewachsen.
Es trifft sich ganz gut, dass das Mauritshuis nun über einen Erweiterungsbau verfügt, denn mittlerweile rollt eine zweite Welle weltweiter Zuneigung an: Im vergangenen Jahr hat die amerikanische Autorin Donna Tartt ihren Roman „The Goldfinch“ veröffentlicht, für den sie 2013 den Pulitzer Prize erhalten hat. Wieder steht ein Gemälde im Mittelpunkt des Plots, diesmal ist es eines von Carel Fabritius. Und wieder hängt es im Mauritshuis.
Quentin Buvelot kann sich nicht recht erklären, warum die Schriftsteller von heute ausgerechnet jene Gemälde zu den Protagonisten ihrer Romane machen, die zur königlichen Sammlung der Niederlande gehören. Doch der leitende Kurator nimmt gerne in Kauf, dass sich dieses ungewöhnliche Museum in der Publikumsgunst heute fast auf Augenhöhe mit dem Rijksmuseum in Amsterdam und sogar dem Louvre befindet.

Seidentapeten aus Frankreich und Kronleuchter aus Murano: Das Mauritshuis hat beim Umbau nicht gespart
Am 27. Juni wird das Mauritshuis nach zweijähriger Umbauzeit von König Willem Alexander wiedereröffnet. Unweigerlich werden Chinesen, Amerikaner, Japaner, Briten, Koreaner und Deutsche gleichermaßen das Adelspalais aus dem 17. Jahrhundert aufsuchen, um die Sammlung zu bewundern. Nur 800 Gemälde, die überwiegend aus dem Goldenen Jahrhundert stammen. Eine Epoche, die bis vor wenigen Jahren allenfalls weltfremde Kunsthistoriker in Ekstase versetzen konnte, deren Hauptdarsteller nun jedoch zu spätberufenen Popstars avancieren. Allen voran das Mädchen mit dem Perlenohrring, das plötzlich jeder einmal im Leben gesehen haben möchte.
Während der 24 Monate andauernden Umbauphase, in denen der Amsterdamer Architekt Hans van Heeswijk 30 Millionen Euro verbaut hat, konnte sich Den Haag darauf vorbereiten, fortan mit ziemlicher Sicherheit auf den Karten der Holland-Touristen rot angekreuzt zu werden. Dabei fällt die Neugier der Reisenden in eine Zeit, in der Den Haag selbst eine zunächst langsam einsetzende und dann immer rasanter werdende Metamorphose abgeschlossen hat.
Die mit knapp 500 000 Einwohnern drittgrößte Stadt der Niederlande besaß lange Zeit die Aura eines bürgerlichen Beamtendorfs. Sie ist Sitz der Regierung und des Königshauses. Als solche galt sie stets als ziemlich gediegen und ein wenig verschlafen.
Doch Den Haag ist begünstigt von seiner Lage direkt an der Küste, und in den Vororten Scheveningen und Kijkduin es ist gesegnet mit langen Sandstränden und weitläufigen Dünenlandschaften. Rein städtebaulich setzte schon in den 90er Jahren ein Wandel ein. Stand Den Haag früher für seine vornehmen Wohngegenden mit Patrizierhäusern und palastartige Residenzen, so machte die räumliche Beengtheit der Randstad (die Agglomeration im Dreieck zwischen Amsterdam, Utrecht und Rotterdam) den Vertikalbau erforderlich.
s’Gravenhage, so die ausgeschriebene Variante, erhielt eine Skyline aus Wolkenkratzern, die mit den Formen der klassischen niederländischen Baukunst spielt. In den vergangenen zehn Jahren hat sich zudem eine neue Lebensfreude manifestiert – mit coolen Restaurants, Galerien und individuell geführten Geschäften.
Das Prins Hendrikplein, die Dunne Bierkade oder der Zuidwal sind längst zum Inbegriff der typisch holländischen „gezelligheid“ geworden: Hier sitzt man draußen, trinkt ein Glas Wein, man erzählt und schaut sich an, wer sonst noch so unterwegs ist. Sei es die Politprominenz, die hier nach landestypischer Sitte auf dem Fahrrad unterwegs ist. Oder die Touristen, die über ein entspanntes Flair staunen, wie es das überlaufene Amsterdam kaum noch besitzt.
All das hält Den Haag nicht davon ab, dem Mädchen mit dem Perlenohrring jetzt ein großes Entree zu bereiten. Die junge Dame, die so kokett über die linke Schulter blickt, als gelte es für ein Foto zu posieren, sie wird in Schaufenstern von Geschäften wie ein Neuankömmling begrüßt.
Am Vorabend der Wiedereröffnung avanciert sie gar zur Operndiva: Sie steht im Mittelpunkt einer Konzertaufführung des Festival Classique, das in den kürzesten Nächten des Jahres mit einem schwimmenden Podium den Hofvijver zu einer Konzertbühne transformiert – mit Blick auf das Mauritshuis.
349 Jahre nachdem sie auf Leinwand gebannt wurde, wird das Mädchen hier nach allen Regeln der Kunst zum Leben erweckt. Mit ihrem goldblauen Kopftuch und ihrem senffarbenen Gewand gerät sie in amouröse Verwicklungen, die ihr einen Bootsausflug und ihrem Verehrer ein Bad im Hofvijver bescheren.
Bei der Vorstellung sind auch dem Distelfink von Fabricius und dem Stier von Paulus Potter Nebenrollen vorbehalten, der in früheren Jahrzehnten die stolze Hauptsehenswürdigkeit des Mauritshuis in Den Haag war. Das Konzert wird vom staatlichen Fernsehen übertragen.
Noch mehr als der Einzelhandel und die schönen Künste aber besinnt sich das Museum selbst auf seine Hauptattraktion. Als „Unique Selling Point“ prangt das Konterfei des Mädchens auf Pfefferminzdosen, Trinkflaschen und Kofferanhängern, auf der Innenseite von Regenschirmen, auf Servietten und natürlich auf Kühlschrankmagneten. Und wer möchte, kann Vermeers Kreation auch in Form eines Quietscheentchens erwerben.
Die kaufmännische Umtriebigkeit allerdings lenkt nicht davon ab, dass die Besucher des Mauritshuis nunmehr regelrecht hofiert werden. Wurden sie früher durch einen verhuschten Seiteneingang ins Palais geleitet, so treten sie nun durch ein vornehmes Portal ein, dessen kapitale Zäune von einer frischen Blattgoldschicht verziert sind.
Nachdem sie einige Treppenstufen hinuntergestiegen sind, stehen sie in einem großzügigen Vestibül. Von hier aus führt der eine Weg direkt ins Museum, der andere in den neuen Flügel, wo in den Räumen einer ehemaligen Anwaltssozietät die unverzichtbare Museumsperipherie untergebracht ist: Dokumentationszentrum, ein Areal für Wechselausstellungen, Bibliothek, Café und Konferenzraum.

Nicht jedem Gemälde allerdings kann sich ungeteilter Aufmerksamkeit erfreuen: Rembrandts Anatomiestunde
So funktional van Heeswijks Aufteilung in Souterrain, Erweiterungsbau und Ausstellungsräume auch sein mag, so unangetastet bleibt das Umfeld, in dem die altehrwürdigen Exponate zu sehen sind. „Diese Bilder“, sagt van Heeswijk, „sind auf ein passendes Ambiente angewiesen. Sie gehören in ein Wohnhaus“. Und genau diese Aura strahlt auch vom renovierten Mauritshuis ab.
Wie Kurator Quentin Buvelot präzisiert, war die oberste Prämisse für die Neugestaltung die Beibehaltung der ursprünglichen Qualitäten. Nur sparsame Eingriffe sind die Folge: Rembrandts „Anatomiestunde“ etwa erfreut sich jetzt eines Platzes in günstigerem Licht. Und der Distelfink, auf seine Inszenierung wurde im ersten Stock ein ganzer Raum ausgerichtet – schließlich ist das populäre Haustier des Goldenen Jahrhunderts dank Donna Tartt doch der mutmaßliche Popstar der Zukunft.
Versonnen blicke ich auf den Schatten, den der zierliche Singvogel wirft. Er ist anmutig – und doch ein sichtbar unvollkommenes Abbild seiner Spezies. Ich frage mich, was hinter der kollektiven Umarmung der Kunst des 17. Jahrhunderts stecken mag. Klar, Romane und Filme mögen dazu beitragen. Aber auch diese verdanken ihren Erfolg demselben Phänomen: Die Makellosigkeit der von Photoshop auf Perfektion getrimmten Gegenwart und der ununterbrochene Informationsstrom des Digitalzeitalters wecken in uns scheinbar die Sehnsucht nach Unvollkommenheit und Freiräumen für die Phantasie.
Die Abbildung gottesfürchtiger Lebensformen vergangener Zeiten, symbolbeladene Stillleben, die Darstellung enigmatischer Rituale, präindustrielle Stadtansichten ohne Luftverschmutzung und der Versuch, ohne Kamera das Aussehen von Menschen für die Nachwelt zu erhalten – all das bewirkt eine wohltuende Distanz zur Reizüberflutung der Gegenwart.
Das Mauritshuis in Den Haag verfügt in dieser Hinsicht über eine formidable Sammlung von Exponaten, die darüber hinaus meisterhaft restauriert sind. Den Distelfink habe ich bestimmt nicht zum letzten Mal gesehen. Zunächst aber werde ich dem Roman von Donna Tartt lesen. Und ich werde im Auge behalten, ob es ihr gelingt, den nächsten Erweiterungsbau des Mauritshuis erforderlich zu machen.
Informationen: Das Mauritshuis in Den Haag ist bis einschließlich 1. November täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet, donnerstags bis 20 Uhr. Der Eintritt kostet 14 Euro, Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren müssen im Mauritshuis in Den Haag keinen Eintritt zahlen.
Der Song zum Thema: “Vermeer” von Superhero Jonathan Richman
Text und Bilder: Ralf Johnen für den Holland-Blog Grachten und Giebel, 24. Juni 2014. Die Reise wurde von Den Haag Marketing und dem Niederländischen Büro für Tourismus & Convention unterstützt.