Ein Wintertag in Amsterdam neigt sich dem Abend zu und die Lichter der so gemütlichen Häuser beginnen sich in den Grachten zu spiegeln. Schummrige Glühbirnen markieren die Umrisse der vielen Brücken. Und zur vollen Stunde ertönt das nostalgische Glockenspiel der Westerkerk.
Wer einmal einen solchen Amsterdam-Moment erlebt hat, wird den Zauber der Stadt nicht wieder vergessen. Oder einen dieser Vormittage im Frühling, an denen sich die Sonne mehr als zuvor erwartet hervorwagt.
Diese Euphorie, wenn die Amsterdamer kollektiv die Sitzpolster aus ihren Wohnungen holen, um einen Flecken auf einem Holzsteg am Wasser zu ergattern, oder wenigstens auf einer Fensterbank.
Später im Jahr die langen Sommernächte, in denen es einfach nicht dunkel werden will, weshalb die Menschen das Leben feiern, am liebsten indem sie mit ihren Booten über die Kanäle tuckern.
Ja, und sogar der Herbst hat seinen Reiz, wenn der von der nahen Küste wehende Wind den Regen durch die Stadt peitscht, dass sich die Schirme verbiegen, während Radfahrer und Fußgänger sich unbeeindruckt ihren Weg zum Ziel bahnen.
Zugegeben: Es war eine optimistische Idee eine größere Siedlung in einer Gegend zu errichten, die sich zwischen Nordsee und Ijsselmeer befindet – und dazu am Rande des größten Flussdeltas Europas. Ein Gelände so sumpfig, dass jedes Gebäude auf einem Fundament von Pfählen errichtet werden musste, Millionen an der Zahl sind es geworden, und alle wurden eigens in den Boden gerammt, um Amsterdam möglich zu machen.
Aber es war nicht nur eine optimistische, sondern vor allem eine gute Idee. Durch seinen Zugang zum Wasser stieg Amsterdam bald nach seiner Gründung zu einem Handelszentrum auf. Zu einer Stadt, in der Menschen aus verschiedenen Nationen und Kulturen schon früh aufeinandergetroffen sind.
So wurden die Weichen für einen Sonderweg gestellt: In Amsterdam waren die Menschen toleranter als an den meisten anderen Orten. Bereits im Mittelalter haben verfolgte Juden aus Spanien, Portugal und Belgien hier Zuflucht gesucht und Unterschlupf gefunden. Nach der Reformation wurden die Katholiken hier weiterhin geduldet. Später sollten Prostitution sowie der Erwerb und Konsum weicher Drogen toleriert werden. 2001 schließlich war als Weltpremiere auch die Homo-Ehe salonfähig.
Manchmal freilich macht es heute den Eindruck, als müsste Amsterdam mit seiner Offenheit für die Engstirnigkeit anderer Städte und Nationen büßen: Besucher aus aller Welt reisen in dem Irrglauben an, hier existierten keine Regeln, an die sie sich zu halten hätten. So geben das Rotlichtviertel und einige andere Plätze zuweilen ein Bild ab, das so traurig ist, dass man das Ende der Zivilisation in Reichweite wähnt.
Doch nur ein paar Schritte weiter ist das schlechte Benehmen der Lauten und Betrunkenen vergessen. In den wunderbaren Kneipen des Jordaan kann sich der Besucher davon überzeugen, dass Amsterdam letztlich eine kleine Metropole mit mancherorts fast dörflicher Anmutung geblieben ist.
Eine Stadt voller Menschen, die Gemütlichkeit schätzen, die gerne und viel reden – und die still und heimlich das Genießen gelernt haben: Die Hauptstadt der Niederlande etwa zählt 13 mit Michelin-Sternen dekorierte Restaurants, nur zwei weniger als das vier Mal so große Berlin.
Überhaupt begnügt sich die Stadt nicht mit Stagnation: Auf den einstigen Hafeninseln im Westen sind moderne Stadtviertel entstanden – und seit einigen Jahren verleibt sich Amsterdam mit sichtbarer Freude auch den bislang vernachlässigten Norden ein. Zudem werden ständig originelle Hotels und Geschäfte eröffnet. So besteht aller Grund zu der Annahme, dass sich Amsterdam auch in Zukunft treu bleiben wird. Als eine freundliche und bezaubernde Stadt, die stets auch nach vorne blickt.
Und sollte sich die Evolution am Amsterdamer orientieren, wäre das nicht nur wegen der genannten Gründen ein Gewinn: In diesem Falle nämlich könnten die Menschen zukünftig gleichzeitig mit atemberaubender Geschwindigkeit Radfahren, Textnachrichten schreiben, Einkäufe und Nachwuchs auf sperrigen Anhängern oder wackligen Sitzen transportieren, pfeifen und orientierungslosen Touristen ausweichen. Und das in allen Jahreszeiten.
Das Buch “Merian Live” Amsterdam ist Ende Mai erschienen. Hier habe ich die Einleitung mit ein paar Bildern versehen. Der “Merian Live Amsterdam” kostet 11,99 Euro.
Hier findet ihr eine Buchrezension
Text & Bilder: Ralf Johnen für Grachten und Giebel
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