Erst mal ein Selfie machen. Mit dieser zeitgemäßen Geste hält Peter Lindbergh einen Augenblick fest, der sich so nicht wiederholen wird. Die Kunsthalle Rotterdam hat dem Fotografen einen großen Bahnhof bereitet.
Mit einer groß angelegten Ausstellung, aber nicht nur damit: Viele Supermodels der ersten Stunde sind gekommen, um Lindbergh zu huldigen. Der 71 Jahre alte Mann aus Duisburg genießt es sichtlich, als er in deren Begleitung in einem nicht aufhören wollenden Blitzlichtgewitter durch die Räume schreitet. »Und die Tina«, sagt er, »die kommt gleich auch noch«.
»Die Tina« ist in diesem Fall Tina Turner, deren Posen Lindbergh festgehalten hat, um ihr in Ergänzung zu einer unverwechselbaren Stimme auch optisch den Status einer Ikone zu verleihen.
Weder Nadja Auermann noch Tatjana Patitz oder Milla Jovovich schauen bei der Ansage verwundert auf. In einer guten Welt ist man seinen Weggefährten schließlich etwas schuldig.
Gesichter einer Generation
Während die Kameras auf die unterschiedlichen gealterten Models gerichtet sind, parliert Lindbergh freudig. Ja, das waren Zeiten, als er Karen Alexander, Linda Evengelista, Christy Turlington und Patitz am Strand von Malibu abgelichtet hat – in weißen Blusen, die nun als modische Evergreens im Museumsshop verkauft werden. Oder als er 1994 Kate Moss mit nur einem Bild für »Harper’s Bazaar« zum Gesicht einer ganzen Generation gemacht hat. Er, ein Junge aus dem Pott, der rein äußerlich besser in einem Schimanski-Krimi aufgehoben wäre als in die Welt von Glitz und Glamour.
Im Auditorium des Museums hatte Lindbergh kurz zuvor gesagt, dass seine Arbeit in erster Linie auf Vertrauen basiere. Die Mannequins wissen, dass er nicht an Makeup interessiert ist, sondern an ihrer natürlichen Seite. Nicht an banaler Zurschaustellung des Körpers, sondern an Persönlichkeit, mit Platz für Unvollkommenheiten, die ja, verkürzt gesagt, wesentlich zum Charakter beitragen.
Der Fotograf als Therapeut: Peter Lindbergh in der Kunsthalle Rotterdam
Nadja Auermann, heute 45, räumt vor der internationalen Modejournaille sogar ein, dass sie sich erst durch Lindbergh als vollwertige Frau zu fühlen gelernt habe. »Ich wollte immer wie Marilyn Monroe aussehen. Doch ich war nur groß und dünn.« Hier hat der Fotograf also zugleich als Therapeut gewirkt.
Milla Jovovich stand schon mit 13 in der Mojave-Wüste vor Lindberghs Kamera. Sie ergänzt, dass es bei ihm nie darum gegangen sei, »pretty« im Sinne von hübsch zu sein. Stattdessen habe der Mann hinter der Kamera kein Risiko gescheut, um andere Seiten aus ihr heraus zu kitzeln.
Tatjana Patitz meint gar, es gehe dem vermeintlichen Model-Dompteur um die Dekonstruktion des gesamten Genres. In einer Welt, die nach Perfektion lechze, stehe Lindberghs Arbeit für Simplizität und Natürlichkeit.
Rund 220 Exponate hat Kurator Thierry-Maxime Loriot zum Beweis der These ausgesucht, dass Lindbergh einen anderen Blick auf die Modewelt eröffnet hat.
Zeitreise in meine eigene Jugend
Für mich persönlich ist der Besuch zu einer Reise in eine Zeit geworden, die sich wie meine Jugend anfühlt, die in Wahrheit aber wohl spätere Jahre abdeckt.
Die Gesichter von Kate Moss, Linda Evangelista, Nadja Auermann und Naomi Campbell waren in den 90ern so allgegenwärtig, dass ich mich unweigerlich in ihrer Begleitung durch laue Kölner Nächte stapfen sehe, durch ein Jahrzehnt, in dem der einzige Plan darin bestand, keinen Plan zu haben.
Altern mit Peter Lindbergh: ungeschminkt und natürlich
So erhält die Ausstellung zusätzlich zu ihrem Dokumentationscharakter auch eine schwelgerische, nostalgische Note. Bis die Realität an diesem besonderen Tag ihr unbarmherziges Gesicht zeigt: Die Zeit ist an einigen Supermodels nicht spurlos vorbeigezogen. Doch statt sich auf einen Wettlauf mit ihr einzulassen, geben sie sich so, als würden sie für Lindbergh posieren: weitgehend ungeschminkt und natürlich.
Als ich nach drei Stunden die Kunsthalle verlasse, komme ich zu dem Schluss: Lindbergh hat das Frauenbild seiner Zeit maßgeblich mitgeprägt. Ich finde, dass er sie in seinen Bildern von der Bürde befreit hat wie flexibel einstzbare Requisiten zu wirken. Dabei ist es ihm gelungen, auf dem schmalen Grat zwischen Unvollkommenheit und Kunst zu wandern. Dabei ist es ihm gelungen, nur innerhalb der Branche ein Star zu werden. Das könnte sich mit seiner ersten Retrospektive nun ändern. Verdient hätte er es. Und das Selfie ist schon mal im Sack.
Informationen
Die Ausstellung zeigt 220 Exponate von Lindbergh. Es handelt sich fast ausschließlich um Schwarzweißfotografien. Auf Show-Effekte verzichtet Kurator Thierry-Maxime Loriot fast vollständig – erst im letzten Raum sind einige Fotos auf transparente Tücher aufgezogen. Die Ausstellung »Peter Lindbergh – A different Vision of Photography« ist bis zum 12. Februar 2017 in der Kunsthal Rotterdam (Di–Sa 10–17Uhr, So ab 11 Uhr) zu sehen. Der Eintritt kostet 12 Euro. Anschließend zieht die Schau in die Kunsthalle München weiter.
Thierry-Maxime Loriot übrigens hat auch die Retrospektive über Jean Paul Gaultier kuratiert – und auch die habe ich während ihrer ersten Station gesehen. Das war 2010 in Montreal, wo der Kurator herkommt.
Der Katalog zur Ausstellung ist bei Taschen erschienen und kostet 59,99 Euro. Es ist ein großformatiges Kompendium mit mehr als 500 Seiten, das jedes Kind der 90er auf dem Kaffeetisch liegen haben sollte – oder wenigstens im Bücherschrank.
Weitere Informationen über die Kunststadt Rotterdam unter #rotterdamART
Text und Bilder: Ralf Johnen, September 2016